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Häufiger als gedacht: Ein Überblick zum Tag der Seltenen Erkrankungen 2023

Man könnte meinen, dass Seltene Erkrankungen kaum jemanden betreffen. Nimmt man sie alle zusammen, dann leidet aber doch jeder Zwanzigste an einer Krankheit, die unter diesen Begriff fällt – weltweit. Am ungewöhnlichsten Tag des Jahres, dem 29. Februar, widmen sich international zahlreiche Initiativen der Aufklärung über die Seltenen Erkrankungen. Wie in den meisten Jahren fällt der Rare Disease Day 2023 ersatzweise auf den 28. Februar. Diese Gelegenheit habe ich genutzt und mich über das Thema Seltene Erkrankungen schlaugemacht.






Seltene Erkrankungen auf einen Blick: 5 Fragen und Antworten



Was macht eine Seltene Erkrankung aus?


Eine Seltene Erkrankung betrifft vergleichsweise wenige Menschen, ist aber besonders gefährlich für sie. Verschiedene Länder legen dabei unterschiedliche Maßstäbe an: In den USA gilt eine Krankheit als „selten“, wenn sie bei höchstens 200.000 Einwohnern vorkommt. Diese Obergrenze liegt in der Europäischen Union bei 1 von 2.000 Einwohnern.


Über 70 Prozent der bekannten Seltenen Krankheiten sind genetisch bedingt. Bei mehr als zwei Dritteln der Betroffenen zeigen sich die ersten Symptome der Erkrankung bereits im Kindesalter. Aber auch Tumorerkrankungen sowie die Folgen von Infektionen oder Allergien können unter die Definition der Seltenen Erkrankung fallen. Weltweit leben geschätzte 300 Millionen Menschen mit einer Seltenen Erkrankung – das entspricht 5 Prozent der Weltbevölkerung. Seltene Krankheiten sind also gar nicht so selten!



Wie viele Seltene Erkrankungen gibt es?


Die genaue Zahl der Seltenen Erkrankungen kennen wir nicht. Allgemein gingen Experten von 7.000 bis 8.000 bekannten Krankheiten aus, die unter die Definition der Seltenen Erkrankung fallen. Die US-amerikanische Non-Profit-Organisation RARE-X hat 2022 insgesamt 10.867 Seltene Erkrankungen ermittelt.


Dieser deutliche Unterschied ergibt sich teilweise aus den verschiedenen Definitionen und Maßstäben – jedes Land zählt etwas anders. Gleichzeitig verstehen wir immer besser, wie einzelne Erkrankungen entstehen und was sie ausmacht. So erkennen wir zum Beispiel, dass eine Gruppe von Patienten gar nicht an ein und derselben Krankheit, sondern an zwei unterschiedlichen, aber sehr ähnlichen Erkrankungen leidet. Andere Patienten erhalten jetzt zum ersten Mal überhaupt eine Diagnose – dank des medizinischen Fortschritts.



Warum gibt es so wenige Behandlungsmöglichkeiten für Seltene Krankheiten?


Ein Arzneimittel zu entwickeln und auf den Markt zu bringen kostet sehr viel Geld. Gleichzeitig sind die Patientengruppen einzelner Seltener Erkrankungen so klein, dass nur wenige Menschen von einem Medikament profitieren würden. Deshalb lohnt es sich für die pharmazeutische Industrie oft nicht, an der Behandlung von Seltenen Krankheiten zu forschen.


Wenn doch ein Arzneimittel entwickelt und getestet wird, stehen oft nur wenige Patientendaten zur Verfügung: Schließlich sind von manchen dieser Erkrankungen nur eine Handvoll Fälle bekannt. Das erschwert die Forschung und den Zulassungsprozess für diese „orphan drugs“.


Das Ergebnis: Für etwa 95 Prozent der bekannten Seltenen Erkrankungen gibt es keine zugelassene Therapie – und Fortschritte macht die Forschung nur sehr langsam.



Wer fördert die Erforschung der Seltenen Erkrankungen?


In der EU bestimmt die Verordnung über Arzneimittel für seltene Leiden, dass jeder Patient dasselbe Recht auf medizinische Behandlung hat – egal, wie häufig seine Erkrankung ist. Deshalb wird die Erforschung von Seltenen Krankheiten und passenden Behandlungsoptionen regelmäßig gefördert.


Zwischen 2007 und 2020 wurden mehr als 440 internationale Forschungsprojekte rund um Seltene Erkrankungen von der EU unterstützt: Über 2,4 Milliarden Euro kamen hier der Entwicklung von Diagnose- und Behandlungsansätzen zugute.


Zahlreiche Initiativen wie Rare Disease Moonshot verbinden außerdem die öffentliche und private Forschung und setzen sich dafür ein, passende Therapien noch schneller und effizienter zu entwickeln.



Welche Fortschritte machen wir in der Erforschung und Behandlung der Seltenen Krankheiten?


Von 2000 bis 2021 erhielten über 200 neue „orphan drugs“ eine Zulassung von der Europäischen Arzneimittel-Agentur EMA. Das zeigt: Es geht durchaus vorwärts. Immerhin profitieren bis zu 6,3 Millionen Patienten von diesen neuen Behandlungsmöglichkeiten.


Für das Jahr 2023 erwarten Experten bis zu 28 weitere Arzneimittel gegen Seltene Erkrankungen auf dem europäischen Markt.



Aktuelle Entwicklungen: 3 Forschungserfolge rund um Seltene Erkrankungen



Stammzelltherapie bei Zerebraler Adrenoleukodystrophie (CALD)


Wie die Mehrheit der Seltenen Erkrankungen entsteht die Adrenoleukodystrophie durch einen Gendefekt – in diesem Fall ein fehlerhaftes ABCD1-Gen. Diese Stoffwechselkrankheit ist vererblich, tritt oft schon im Kindesalter auf und betrifft fast ausschließlich Jungen. Dabei sammeln sich überlangkettige Fettsäuren in verschiedenen Organen und insbesondere im Hirn an. Die erkrankten Kinder leiden unter schweren neurologischen Einschränkungen, die meist tödlich verlaufen. Besonders schnell schreitet die zerebral-entzündliche Form der Krankheit voran.


Im Herbst 2022 hat in den USA eine personalisierte Gentherapie die Zulassung der Food and Drug Administration (FDA) erhalten. Das per Infusion verabreichte Arzneimittel Skysona wird mithilfe von patienteneigenen Stammzellen individuell hergestellt. Das fehlerhafte Gen ABCD1 wird so ersetzt, und nach einer Chemotherapie können die veränderten Stammzellen im Körper des Patienten ihre Arbeit aufnehmen. Bereits entstandene Schäden repariert Skysona nicht, aber erste Studien zeigen, dass die Erkrankung bei den behandelten Kindern deutlich langsamer voranschreitet.



Medikament bei Afrikanischer Trypanosomiasis


Der Erreger der Tropenerkrankung Trypanosomiasis, die auch als Schlafkrankheit bekannt ist, wird von der Tsetsefliege übertragen. Wie viele Menschen von der Krankheit betroffen sind, kann nur geschätzt werden – sie gilt aber als Seltene Erkrankung. Nach der ersten Infektion treten zuerst typische Grippesymptome auf. Später leiden die Patienten an Krämpfen und Koordinationsstörungen, bis sie in einen schläfrigen Dämmerzustand fallen. Unbehandelt verläuft die Trypanosomiasis tödlich.


Bisher waren schon mehrere Therapieoptionen verfügbar. Die Patienten mussten dafür aber in Krankenhäusern und über längere Zeit behandelt werden. In der Praxis profitierten daher nur wenige Betroffene von dieser Möglichkeit. Im November 2022 wurden die vielversprechenden Ergebnisse einer Studie veröffentlicht: Mit dem Arzneimittel Acoziborole konnte die Afrikanische Trypanosomiasis in mehr als 95 Prozent der Fälle erfolgreich behandelt werden. Besonders interessant: Im Gegensatz zu den bisherigen Therapien ist hier nur eine einzige Dosis in Tablettenform notwendig.



Stammzellentherapie bei Morbus Pearson und Kearns-Sayre-Syndrom


Ohne Mitochondrien geht im menschlichen Körper nichts, deshalb werden sie gerne auch „Kraftwerke der Zelle“ genannt. Die darin enthaltene mitochondriale DNA (mtDNA) wird von Generation zu Generation vererbt – immer von der Mutter an ihr Kind. Wenn dabei etwas schiefgeht und die Kopie der mtDNA unvollständig bleibt, können Erkrankungen wie Morbus Pearson und das Kearns-Sayre-Syndrom entstehen. Das betroffene Kind leidet dann an verschiedenen Symptomen und Folgeerkrankungen, die tödlich verlaufen können.


Ende 2022 wurde erstmals von bedeutenden Fortschritten in der Behandlung dieser Krankheit berichtet. Einem israelischen Team gelang es, den Allgemeinzustand von sechs erkrankten Kindern nachweislich zu verbessern. Dazu entnahmen die Ärzte jedem Kind Stammzellen aus dem Knochenmark und reicherten diese mit gesunder mtDNA aus den Blutzellen der jeweiligen Mutter an. Per Infusion gelangten die veränderten Stammzellen dann in den Organismus des erkrankten Kindes. Dort ersetzten sie erfolgreich einen Teil der eigenen Stammzellen, die mit einer fehlerhaften mtDNA ausgestattet waren.



Aufklären über ein globales Thema: Tag der Seltenen Erkrankungen 2023



Das Bündnis European Organisation for Rare Diseases (EURORDIS) vereint fast 1.000 Organisationen und Initiativen rund um das Thema Seltene Erkrankungen. Seit 2008 koordiniert EURORDIS den Rare Disease Day am 28. oder 29. Februar und leistet das ganze Jahr über wichtige Aufklärungsarbeit.


Die Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE) gibt den Menschen mit Seltenen Krankheiten eine Stimme und bietet Selbsthilfeorganisationen Unterstützung nach dem Netzwerkprinzip.


Das in Frankreich gegründete und durch die Europäische Kommission geförderte Orphanet stellt Informationen zu Seltenen Erkrankungen, ihrer jeweiligen Erforschung und früheren sowie laufenden Projekten zur Verfügung.


In den USA setzt sich die National Organization for Rare Disorders (NORD) für die Erforschung von Behandlungsmöglichkeiten ein und bietet Informationen rund um Seltene Erkrankungen und orphan drugs.


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